Gastbeitrag von Roland Broemel: Daten als Perspektiven digitalen Zentralbankgelds (Börsen-Zeitung)

Zentralbanken rund um die Welt forschen an den Rahmenbedingungen digitalen Zentralbankgelds, entwickeln Konzepte und haben teilweise mit der Ausgabe bereits begonnen. Die Faktoren der Ausgestaltung digitalen Zentralbankgelds sind vielschichtig, von den technischen Mechanismen der Übertragung virtueller Einheiten einschließlich der Schnittstellen für internationale Transaktionen über den Kreis der Nutzungsberechtigten bis hin zu den Möglichkeiten und Modalitäten der Nutzung. Die auch von der Europäischen Zentralbank (EZB) angestoßene, breite Diskussion erhöht deren Qualität, sollte aber die Relevanz der Daten einschließlich der mit ihnen verbundenen Perspektiven, Zusammenhänge und Bedenken näher in den Blick nehmen, wie Prof. Roland Broemel in einem Gastbeitrag in der "Börsen-Zeitung" schreibt.

Auch die Gründe unterscheiden sich je nach Kontext, wobei sich jedoch typische Motive abzeichnen. Neben der Förderung finanzieller Inklusion steht oftmals die Reaktion auf veränderte Zahlungsgewohnheiten im Vordergrund. Der Anteil der Bargeldnutzung bei Zahlungsvorgängen ist in vielen Staaten rückläufig, obwohl die Menge des ausgegebenen Bargelds steigt. Die Verfügbarkeit von Zentralbankgeld auch für digitale Zahlungen soll zur Sichtbarkeit und zum Vertrauen beitragen. Zugleich soll es die Effektivität währungspolitischer Instrumente absichern, die unter Umständen durch eine Abwanderung des Zahlungsverkehrs in den Bereich der privaten Anbieter beeinträchtigt werden könnte.

Datenaffine Big-Tech-Unternehmen, die digitale Zahlungsdienste als Element eines Ökosystems anbieten, sind mit ihren Geschäftsmodellen nicht in gleicher Weise in die geldpolitischen Transmissionsmechanismen eingebunden wie traditionelle Kreditinstitute. Nicht zuletzt die zeitweilige Ankündigung einer global verbreiteten Stablecoin „Libra“/„Diem“ wirkte, auch durch mögliche Effekte der Verwaltung großvolumiger Sicherheiten, als Katalysator für Überlegungen der Zentralbanken. Daneben greift die zukünftige Verordnung zu Märkten für Kryptowerte (MiCA-VO) mit einer Zulassungspflicht für wertreferenzierte Token und besonderen Regelungen für signifikante wertreferenzierte Token und E-Geld-Token die Thematik aufsichtsrechtlich auf. Die digitale Transformation verändert die Rahmenbedingungen des Zwei-Säulen-Modells aus Zentralbanken und Geschäftsbanken.

Minimalinvasiv gestalten

Die Europäische Zentralbank (EZB) prüft in der derzeitigen Untersuchungsphase Möglichkeiten zur Einführung eines digitalen Euro, die bestehende Marktstrukturen möglichst unverändert lassen. Als Suche nach der minimalinvasiven Ausgestaltung ist die laufende Forschung der Zentralbanken in einer Studie aus dem Kreis der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich pointiert charakterisiert worden.

Aus ökonomischer Perspektive liegt die Schwierigkeit darin, einen digitalen Euro als Zahlungsmittel zu etablieren, ohne die Kundenbeziehungen der Kreditinstitute insbesondere im Einlagengeschäft in Mitleidenschaft zu ziehen. Das institutionell bedingte höhere Maß an Sicherheit eines digitalen Euro gegenüber Giralgeld von Kreditinstituten kann in Kombination mit der schnellen Umtauschbarkeit im Extremfall eines allgemeinen Vertrauensverlusts zu einer systemweiten Bankenpanik (systemic bank run) führen, die nicht nur ein bestimmtes Kreditinstitut, sondern Einlagen bei Kreditinstituten generell betrifft. Unabhängig von der unterschiedlich eingeschätzten Wahrscheinlichkeit und Abwendbarkeit einer solchen systemweiten Bankenpanik spricht die Sicherheit von digitalem Zentralbankgeld dafür, dass es zumindest auch als wertspeichernde Anlageform eingesetzt wird. Der komparative Vorteil geschäftlicher Anbieter liegt hingegen darin, innovative, unter Umständen besonders nutzungsfreundliche Zahlungsmethoden zu entwickeln und ihr Marktpotenzial zu testen.

Die EZB strebt vor diesem Hintergrund eine technologieneutrale Ausgestaltung eines digitalen Euro an, auf der vielfältige zahlungsbezogene Leistungen privater Anbieter aufsetzen können. Zudem ist ein wesentlicher Teil der Forschung der Frage gewidmet, wie sich die Aufnahme des digitalen Euro moderieren lässt. Der digitale Euro soll er­folgreich, aber eben nicht zu erfolgreich werden, damit er als digitales Zahlungsmittel genutzt wird, ohne die Geschäftsmodelle etablierter Kreditinstitute, insbesondere im Einlagengeschäft, wesentlich zu beeinträchtigen.

Diese Beschränkung digitalen Zentralbankgelds auf die Funktion eines Zahlungsmittels korrespondiert mit Stimmen in der juristischen Literatur, die Kompetenzen der EZB anhand des Leitbilds verkörperter Banknoten konkretisieren. Es liegt zunächst nahe, die Kompetenz der EZB zur Genehmigung der Ausgabe von Banknoten, die historisch als verkörpert gedacht waren, auf die Ausgabe digitalen Zentralbankgelds zu erstrecken, wenn Zentralbankgeld als ein digitales Äquivalent zur verkörperten Banknote verstanden werden kann. Einen digitalen Euro aus kompetenziellen Gründen darauf zu beschränken, die Eigenschaften seines analogen Pendants nachzubilden, würde allerdings die methodischen Möglichkeiten des Rechts, strukturelle Veränderungen der Wirklichkeit zu verarbeiten, nur un­zureichend ausschöpfen.

Orientierung am Gemeinwohl

Die konzeptionelle Ausrichtung auf ein digitales Zahlungsmittel drückt eine kluge Selbstbeschränkung der EZB aus, ist aber rechtlich nicht vorgegeben und lässt politisch Potenzial zur entwicklungsoffenen und allgemeinwohlorientierten Ausgestaltung von Märkten ungenutzt. Mit Blick auf den Hintergrund der Einführung – die digitale Transformation – spricht vielmehr manches dafür, den digitalen Euro als allgemeinwohlorientierte digitale Infrastruktur in dem sich wandelnden Umfeld zu etablieren. Eine solche Infrastruktur kann in dreifacher Hinsicht einen Beitrag leisten: zum Datenschutz, zur Begrenzung datenbasierter Marktmacht und als Wissensinfrastruktur.

In datenschutzrechtlicher Hinsicht führt der Vergleich des digitalen Zentralbankgelds mit der Anonymität des Bargelds auf eine verzerrende Perspektive. Im Zuge der rückläufigen Nutzung des Bargelds und der digitalen Transformation tritt der digitale Euro nicht an die Stelle von Bargeld, sondern von digitalen Zahlungsdiensten, die kommerziell von Dritten angeboten werden. Es mag sein, dass in einigen Staaten die Nutzung von digitalem Zentralbankgeld mit erhöhten Risiken einer eingehenden staatlichen Überwachung verbunden ist. Für die EZB ist ein derartiges Szenario allerdings schon mit Blick auf die Unabhängigkeit, insbesondere von den Sicherheits- und Ordnungsbehörden der Mitgliedstaaten, und die Beschränkung des Aufgabenkreises nicht plausibel.

Die Risiken der Profilbildung und darauf beruhender, individueller Nachteile in der Folgezeit dürften bei der Nutzung digitaler Zahlungsdienste von Kreditinstituten oder Plattformbetreibern größer ausfallen. Der digitale Euro stellt keine datenintensive Alternative zum Bargeld, sondern eine datenschutzfreundliche Alternative zu digitalen Zahlungsdiensten dar, die typischerweise als Element übergreifender, datenbasierter Geschäftsmodelle an­geboten werden. Wie datenschutzfreundlich der digitale Euro ausgestaltet ist und welche Alternativen er für selbstbestimmte Entscheidungen bei der Nutzung digitaler Zahlungsdienste bereithält, hängt wesentlich davon ab, welche Aufgaben Intermediäre bei der Verbreitung, Verwaltung und Übertragung des digitalen Euro übernehmen und wie die Schnittstellen zwischen der EZB und den privaten Akteuren konzipiert sind.

Eine solche Ausgestaltung kann sich zugleich auf die Eigenschaften der digitalen Plattformen auswirken, auf denen digitales Zentralbankgeld verwendet wird. Unter anderem der Digital Markets Act führt einen Katalog von Verhaltensvorgaben für bestimmte große Plattformbetreiber ein, um die Bestreitbarkeit und Entwicklungsoffenheit von digitalen Plattformen trotz datengetriebener Faktoren der Marktmachtkonzentration zu gewährleisten. Eines der zentralen, neu eingeführten Verbote be­trifft die Zusammenführung personenbezogener Daten, die der Plattformbetreiber über seine Dienste erhoben hat, mit personenbezogenen Daten aus Diensten Dritter ohne ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Person. Die neue Regelung greift die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen nach der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) auf und fasst sie für Gatekeeper enger. Die Einwilligung kann nicht durch eine generalklauselartige Interessenabwägung ersetzt werden und setzt vor allem eine spezifische Wahlmöglichkeit voraus.

Diese Forderung einer „spezifischen Wahl“ greift eine typische Schwäche der Einwilligung, vor allem gegenüber marktbeherrschenden Plattformbetreibern, auf. Nutzerinnen und Nutzer tendieren in der Nutzungssituation oftmals dazu, die Einwilligung schematisch zu erteilen, zumal wenn es an Alternativen zu dem begehrten Angebot auf der Plattform fehlt. Die neue Regelung erhöht den normativen Druck zur Bereitstellung einer solchen Alternative, behebt das Problem allerdings nicht grundsätzlich. Die Einführung eines digitalen Euro könnte demgegenüber einen ergänzenden Weg aufzeigen, spezifische Wahlmöglichkeiten bei digitalen Zahlungsvorgängen bereitzustellen und dadurch datenbasierte, marktverschließende Effekte auf digitalen Plattformen abzumildern. Durch die technische Ausgestaltung der Schnittstellen sowie durch die rechtliche Ausgestaltung der Leistungen und Befugnisse von Intermediären bei der Durchführung von Transaktionen kann ein digitaler Euro dazu beitragen, dass personenbezogene Daten aus der kommerziellen Verwertung herausgenommen werden oder ihre Verwendung von einer Auswahl zwischen gleichwertigen Alternativen abhängig gemacht wird.
Wissenstransfer für die EZB

Umgekehrt bieten die Daten über Transaktionen in anonymisierter, pseudonymisierter oder aggregierter Form die Möglichkeit, eine Wissensinfrastruktur bei der EZB aufzubauen. Solche in Echtzeit verwertbaren Daten könnten als frühzeitige Indikatoren systemischer oder punktueller Risiken, als Informationsgrundlage für währungspolitische Entscheidungen und schließlich als Hinweise auf aufsichtsrelevante Sachverhalte herangezogen werden.

Der Aufbau einer verfahrensübergreifenden Wissensinfrastruktur steht in einem Spannungsverhältnis zum datenschutzrechtlichen Grundsatz der Zweckbindung. Dieser Grundsatz findet allerdings keine Anwendung auf aggregierte oder anonymisierte Daten sowie auf sonstige Daten, die mangels Personenbezug von vorneherein nicht unter die DSGVO fallen. Vor allem legt der Zweckbindungsgrundsatz eine Planbarkeit der Datenverwendung zu­grunde, die auf viele Facetten der digitalen Transformation nur abstrahiert zutrifft.

Die digitale Transformation hat auf den Finanzmärkten ebenso wie in anderen Bereichen das Verhältnis sowohl der Marktakteure als auch der Aufsicht zum Wissen geändert. Durch die automatisierte Erhebung und Verarbeitung stehen Daten in vielen, vor allem kommerziellen Bereichen in Echtzeit zur Verfügung. Wissen wird schnelllebiger – es ist schneller verfügbar und verliert schneller seine Aktualität. Vor allem machen Anwendungen des maschinellen Lernens, indem sie Wahrscheinlichkeiten nach statistischen Grundsätzen ermitteln und auf andere Situationen übertragen, Zusammenhänge sichtbar, die sich durch Beobachtung und damit durch Erfahrung oftmals kaum erschließen lassen. Algorithmenbasiertes Wissen zeichnet sich, einschließlich der be­kannten Verzerrungsrisiken, durch eine andere Qualität aus als das Erfahrungswissen, das durch dezentrale Erprobung und wechselseitige Beobachtung auf Märkten distribuiert wird. Es ist deshalb kein Zufall, dass datenbasierte Geschäftsmodelle digitaler Plattformen auf maschinellem Lernen beruhen.

Daraus folgt allerdings nicht, dass algorithmenbasiertes Wissen für allgemeinwohlbezogene Aufgaben der öffentlichen Hand ungeeignet wäre. Öffentliche Stellen sind aus mehreren Gründen tendenziell zögerlich, Wissensinfrastrukturen, die auf maschinellem Lernen beruhen, systematisch aufzubauen und zu er­schließen. Diese Gründe gehen unter anderem auf fehlende Expertise und nachvollziehbare Skepsis angesichts etablierter Grundsätze des Datenschutzrechts zurück. Der digitale Euro bietet eine Gelegenheit, den Aufbau einer allgemeinwohlbezogenen Wissensinfrastruktur zu erproben und das Gewicht der Gründe für eine zögerliche Haltung differenziert aufzuarbeiten.

Fällt nach der Untersuchungsphase die Entscheidung für die Einführung eines digitalen Euro, wird sicherlich eine spezifische rechtliche Grundlage die zentralen Eckpunkte der Ausgestaltung, Aufgaben und Funktionen setzen. Die auch von der EZB angestoßene, breite Diskussion erhöht deren Qualität, sollte aber die Relevanz der Daten einschließlich der mit ihnen verbundenen Perspektiven, Zusammenhänge und Bedenken näher in den Blick nehmen. 

Börsen-Zeitung: "Daten als Perspektiven digitalen Zentralbankgelds"