Volker Wieland: "Inflation ist nicht gleich Inflation" (Handelsblatt)

Warum die Europäischen Zentralbank (EZB) breitere Inflationsmaße in den Blick nehmen und nicht nur auf den Konsumentenpreisindex (HVPI) schauen sollte, erläutert Prof. Volker Wieland in der Kolumne "Homo Oeconomicus" im "Handelsblatt". Dies sei sogar ohne eine große Änderung der Strategie möglich.

Langfassung:

Deflation ist angesagt. Für Oktober meldete Eurostat: „Euro-Raum jährliche Inflationsrate stabil bei -0,3%.“ Die Europäische Zentralbank (EZB) könnte im Dezember ihre Anleihekäufe ausweiten. Zudem wies EZB-Präsidentin Lagarde darauf hin, dass die Inflation im Euro-Raum vor der Finanzkrise bei durchschnittlich 2,3% lag, seither nur bei 1,2%. Woran das liege und wie die EZB darauf reagieren solle, sei im Rahmen der Strategieüberprüfung zu klären.

„Welche Inflation?“, sollte man zuerst fragen. Denn es gibt verschiedene Inflationsmaße. Die Zahlen beziehen sich auf den Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), den die EZB ins Zentrum ihrer Strategie gestellt hat. Doch der erfasst erstens nicht alle Preise – Investitionsgüter, Baukosten oder staatliche Dienstleistungen sind ausgenommen. Zweitens beinhaltet er importierte Güter und Dienstleistungen, darunter Öl und Gas. So liegt die gemessene Deflation vor allem am Rückgang der Energiepreise. Drittens erfasst der HVPI einen wichtigen Ausgabenblock der Haushalte nicht: die Kosten für Wohnraum bei selbstgenutzten Immobilien. 

Sinnvoll wäre es, die Preisentwicklung aller Güter und Dienstleistungen, die im Euro-Raum produziert werden, zu betrachten. Das ist der BIP-Deflator. Gemessen daran lag die Inflation zwischen 1999 und dem ersten Quartal 2009 bei durchschnittlich 2,0%. Kein großer Unterschied zum HVPI. Aber das hat sich geändert. Bis Anfang 2013, als die Eurokrise auf die globale Finanzkrise folgte, nahmen die Preise für inländische Güter und Dienstleistungen im Durchschnitt nur um 1% zu. Während der wirtschaftlichen Erholung seit Mitte 2013 bis Anfang 2020 lag die so gemessene inländische Inflation bei durchschnittlich 1,3% und stieg bis Ende 2019 auf 1,8%  - also zum Zielwert der EZB von unter, aber nahe 2%.

Die EZB spricht jedoch nicht über den BIP-Deflator, sondern nur über den HVPI. In den Rezessionsjahren ging es beim HVPI auf und ab, im Durchschnitt waren es 1,8% plus. In der Erholungsphase seit 2013 fiel der Durchschnittswert auf 0,9%. Das überrascht, denn gemäß ökonomischer Theorie sowie empirischer Beobachtung sinkt die Inflation in einer Rezession und steigt im Zuge der wirtschaftlichen Erholung. Beim Diese Entwicklung zeigt sich beim BIP-Deflator. Für die EZB müsste es zudem erfreulich sein, dass sich daran eine gewisse Wirkung der massiven geldpolitischen Lockerung ablesen lässt.  Grund für die gegenläufige Entwicklung des HVPI ist die Importpreisinflation von durchschnittlich -0,3% zwischen 2013 und 2019.

Die EZB sollte daher breitere Inflationsmaße in den Blick nehmen. Das ist sogar ohne große Änderung der Strategie möglich. Denn das Inflationsziel von unter, aber nahe 2% für den HVPI lässt sich als eine Bandbreite von 1,5 bis 2% interpretieren. Das gibt Flexibilität, um Signale anderer Inflationsmaße in die Kommunikation aufzunehmen. Das gilt auch für die Preisentwicklung bei selbstgenutztem Wohnraum. In den vergangenen fünf Jahren schwankte der jährliche Anstieg dieser Kosten in Deutschland zwischen 3% und 5%. Es ist methodisch zwar schwierig, die Kosten für selbstgenutzten Wohnraum in den HVPI einzubeziehen. Aber das muss die EZB nicht hindern, dies in Geldpolitik und Kommunikation zu berücksichtigen.

Handelsblatt: Volker Wieland im Homo Oeconomicus: Inflation ist nicht gleich Inflation - Die EZB sollte andere Maße betrachten