Volker Wieland warnt vor überstürzten Handlungen nach Brexit-Referendum

Das knappe Abstimmungsergebnis für einen Brexit muss nach Einschätzung von Prof. Volker Wieland nicht die endgültige Entscheidung über die EU-Mitgliedschaft sein, sondern ist ein Weckruf für alle europäischen Partner und Regierungen.

"Es ist nicht vorbei. Die Europäische Union ohne Großbritannien wäre keine Europäische Union mehr. Sie würde einen bedeutenden Teil Europas verlieren, einen Eckpfeiler des Europäischen Friedensprojekts seit dem Zweiten Weltkrieg.

Das knappe Abstimmungsergebnis für einen Brexit muss nicht die endgültige Entscheidung über die EU-Mitgliedschaft sein. In jedem Fall ist es ein Weckruf für alle europäischen Partner und Regierungen. Es bleibt Raum und Zeit, sich die Sache noch einmal zu überlegen, neue Wege zu gehen und sich zusammenzuraufen.

Es wäre ein großer Fehler, wenn die anderen Mitgliedsländer mit einem beleidigten "Wenn ihr nicht bei uns bleiben wollt, dann geht doch!" reagierten. Es wäre ein ebenso großer Fehler, nun überstürzt neue Integrationsinitiativen innerhalb eines sogenannten "Kerneuropas" auf den Weg zu bringen und damit Großbritannien erst recht hinauszudrängen.

Stattdessen sollten wir anerkennen, dass viele europäische Bürger – nicht nur in Großbritannien – ein großes Maß an Souveränität auf der nationalen Ebene wünschen. Der Ausdruck nationaler Identität und der Wunsch nach Selbstbestimmung können nicht nur mit Fußballturnieren befriedigt werden.  Statt reflexartig eine immer engere Integration zu fordern und zu erwarten, dass jede Krise automatisch zu „mehr Europa“, sprich „mehr Souveränitätstransfer an supranationale Institutionen“ führt, müssen wir mit Bedacht überlegen, wie die europäischen Institutionen aufgestellt werden können, so dass sie die richtige Balance zwischen Souveränität auf mitgliedstaatlicher Ebene und Entscheidungsgewalt bei supranationalen Institutionen finden.

Für den Euroraum heißt dies zum Beispiel, dass wir sicherstellen müssen, dass mitgliedstaatliche Souveränität in der Fiskalpolitik mit einer stabilen Währungsunion koexistieren kann. Die Regeln sind
verbessert worden, aber sie müssen angewendet werden, und es gibt noch ein paar Lücken, die geschlossen werden müssen.

Das OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in dieser Woche liefert ein gutes Beispiel, wie man die nötige Balance erreichen kann. Die Karlsruher Richter haben den offenen Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vermieden. Sie haben jedoch ihren Spielraum genutzt, um die Begründung des EuGH zu kritisieren. In der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts zeichnen sich klarere Grenzen für die deutsche Regierung und die Bundesbank ab, sollte letztere sich an einer möglichen zukünftigen Umsetzung des OMT-Programms der EZB beteiligen wollen. Schließlich ist es Aufgabe des Gerichts, auf die Einhaltung des Grundgesetzes, also der deutschen Verfassung, zu achten und so einen Beitrag zur Stabilität der Europäischen Union zu leisten – einer heterogenen Union eben, mit ganz unterschiedlichen Mitgliedern."