Volker Wieland: Warum es höchste Zeit ist, die Geldpolitik zu straffen ("Wirtschaftswoche")

EZB-Präsident Mario Draghi und Fed-Vorsitzende Janet Yellen führen das extrem niedrige Zinsumfeld auf einen gesunkenen Gleichgewichtszins zurück: Sie sehen die Ursache für die Niedrigzinsen nicht in der Geldpolitik, sondern im realwirtschaftlichen Ausgleich von Ersparnis und Investitionsnachfrage. Die zugrundeliegenden ökonometrischen Schätzungen sind jedoch nach Auffassung von Volker Wieland äußerst unpräzise. Zudem gingen sie von einer Überauslastung der Wirtschaft aus, kritisiert Wieland. In einem Gastbeitrag im Wirtschaftsmagazin „Wirtschaftswoche“ erklärt er mit Blick auf die Schätzungen, warum die Europäische Zentralbank die umfangreichen Staatsanleihekäufe beenden sollte.

Die starke wirtschaftliche Erholung im Euroraum setzt die EZB immer mehr unter Zugzwang. Das Wachstum hält bereits seit Mitte 2013 an. Im 1. Halbjahr 2017 hat die Wirtschaft noch einmal um rund 2 % zugelegt. Zudem ist die Kern-inflation seit langem positiv, es gibt keine Deflationsgefahr. Angesichts dessen ist der Krisenmodus der Geldpolitik mit negativen Zinsen und massiver Bilanzausweitung durch Anleihekäufe nicht mehr zeitgemäß. Ferner verknappen sich die noch kaufbaren Staatsanleihen zunehmend.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat bereits angemahnt, dass die Geldpolitik der EZB zu expansiv sei und daraus resultierende Risiken für die Finanzstabilität aufgezeigt. Insbesondere steigende Zinsänderungsrisiken im Bankensystem verdeutlichen, wie wichtig es ist, den Ausstieg nicht zu weit hinauszuschieben.

Eine Straffung der Geldpolitik ist selbst dann überfällig, wenn man wie die EZB von einem deutlichen Rückgang des Gleichgewichtszinses ausgeht. Dieser Gleichgewichtszins ergibt sich, wenn das BIP dem Potenzialniveau entspricht und die Inflation stabil ist. Damit definiert er das nominale Zinsniveau, das weder expansiv noch kontraktiv wirkt. Sein Niveau und Abstand zum tatsächlichen Realzins zählen derzeit zu den größten offenen Fragen für die Geldpolitik.

Sowohl Yellen als auch Draghi verwiesen in den vergangenen Monaten auf Studien, die zeigen sollen, dass das anhaltende Niedrigzinsumfeld auf einem Rückgang des mittelfristigen Gleichgewichtszinses beruht. Große Aufmerksamkeit erregten in diesem Kontext Ergebnisse von John Williams, Präsident der San Francisco-Fed, Thomas Laubach und Kathryn Holston von der US-Fed. Sie schätzen, dass der reale Gleichgewichtszins von über 2 % in 2007 auf etwa 0 % in 2010 gefallen ist und seither dort verharrt. Damit verbunden ist ein geringeres geschätztes Potenzialwachstum.

Allerdings sind diese Schätzungen äußerst unpräzise und der Rückgang des mittelfristigen Gleichgewichtszinses ist statistisch nicht signifikant, wie Robert Beyer von der Weltbank und ich in einem aktuellen Arbeitspapier zeigen. Ferner vernachlässigen diese Schätzungen wichtige Einflussfaktoren, wie Kreditbeschränkungen, zunehmende Regulierung und die Geldpolitik. Es ist daher gut möglich, dass sich der Gleichgewichtszins gar nicht verändert hat.

Zudem macht es – wie meist in der Ökonomie – einen Unterschied, ob man eine mittel- oder längerfristige Perspektive einnimmt. Schätzwerte für einen langfristigen Gleichgewichtszins haben sich weit weniger stark verändert und lassen sich präziser quantifizieren. Maik Wolters von der Universität Jena und ich schätzen, dass eben dieser langfristige Gleichgewichtszins nur wenig unter 2 % und statistisch signifikant deutlich über 0 % liegt. Unsere Analyse führt die niedrigen Realzinsen auf die ungewöhnlich lockere Geldpolitik und ungewöhnlich hohe Anlegerpräferenzen für sichere und liquide Anlageformen zurück. Die Geldpolitik macht demnach die Hälfte und die Risikoprämie ein Viertel der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Realzins und dem langfristigen Gleichgewichtszins aus. Demnach dürfte ein Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik wieder zu steigenden realen Renditen führen.

Angesichts der unsicheren und möglicherweise verzerrten Schätzwerte für mittelfristige Gleichgewichtszinsen sollte man daran keine entscheidenden geldpolitischen Weichenstellungen ausrichten. Dennoch hat Yellen den Schätzwert von 0 % in der bekannten Taylor-Regel verwendet, um die Niedrigzinspolitik zu rechtfertigen. Diese Regel gibt einen Richtwert für das nominale Zinsniveau und ist abhängig vom Gleichgewichtszins, der Inflationsrate und der Wirtschaftsauslastung.

Yellen verwendet ein Maß für das langfristige Potenzial, um die Auslastung zu berechnen. Folgt man Yellen und Draghi und verwendet einen mittelfristigen Gleichgewichtszins nahe 0 %, müsste man jedoch das konsistente Maß für das Potenzial verwenden. Da der Rückgang des mittelfristigen Gleichgewichtszinses mit einem geringer geschätzten Potenzialniveau einhergeht, ergibt sich eine höhere geschätzte Wirtschaftsauslastung. Demnach liegt das BIP selbst im Euro-Raum bereits deutlich über dem Potenzialniveau.

Natürlich muss man diese Einschätzung nicht übernehmen. So liegen die Annahmen von OECD und EU-Kommission für das längerfristige Potenzialniveau deutlich höher. Aber man sollte den mittelfristigen Gleichgewichtszins zusammen mit dem konsistent geschätzten mittelfristigen Potenzialniveau in der Taylor-Regel verwenden. Dann ergibt sich seit 2015 eine höhere Leitzinsempfehlung (siehe Grafik). Eine konsistente Anwendung spricht deshalb seit längerem für eine geldpolitische Straffung. Selbst wenn man von einem sehr niedrigen Gleichgewichtszins ausgeht, ist diese überfällig.

Die EZB bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung. Mit umfangreichen Anleihekäufen beeinflusst sie nicht nur kurz- sondern auch längerfristige Zinsen. So hat sie die Zinsen für 10-jährige deutsche Staatsanleihen zeitweise in den negativen Bereich gedrückt. Stattdessen wäre es angesagt, das Ankaufprogramm für Staatsanleihen zu beenden, da sich die makroökonomische Lage im Euro-Raum deutlich verbessert hat. Die EZB muss daher ihren Ausstieg dringend kommunikativ vorbereiten.

(Dies ist eine Langfassung des Gastbeitrags in der Kolumne "Denkfabrik" (Paid Content) der "Wirtschaftswoche": Der Wirtschaftsweise Volker Wieland fordert ein Ende der Niedrigzinspolitik")