Gastbeitrag von Helmut Siekmann zum Brexit: "Wie ein europäischer Bundesstaat aussehen könnte" ("Börsen-Zeitung")

Helmut Siekmann, Professor für Geld-, Währungs- und Notenbankrecht am Institute Monetary and Financial Stability (IMFS) der Goethe-Universität, weist in einem Gastbeitrag in der "Börsen-Zeitung" darauf hin, dass es laut Artikel 50 der Europäischen Verträge keinen Austrittsantrag aus der EU gibt: „Artikel 50 EUV kennt einen derartigen Antrag nicht.“ Seiner Einschätzung nach „handelt es sich um juristischen Unsinn“. Stattdessen beziehe sich Artikel 50 auf eine „einseitige Willenserklärung“.

"Das Ergebnis des Volksentscheids im Vereinigten Königreich ist ein Weckruf. Alle Entscheidungsträger der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten sind aufgerufen, grundlegende Reformen der Verfassung einer Europäischen Union, möglicherweise nur noch einer europäischen „Kontinentalunion“ unverzüglich in Angriff zu nehmen. Unverzüglich bedeutet, einen Reformprozess nicht erst dann zu beginnen, wenn die Verhandlungen über ein Austrittsabkommen beendet worden sind, auch wenn das Primärrecht der EU dafür in Artikel 50 Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) eine Frist von zwei Jahren vorsieht, die durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates sogar noch verlängert werden. Dafür ist eine letzte Frist nicht vorgeschrieben. Das gibt Anlass zu der Besorgnis, dass das notwendige Umdenken und personelle Veränderungen (wieder) auf die lange Bank geschoben werden.

Abwegig ist es, stattdessen Druck auf das Vereinigte Königreich auszuüben, und einen „Antrag“ nach Artikel 50 EUV binnen weniger Tage zu verlangen. Abgesehen von der politischen Fragwürdigkeit, in einer solchen Situation Druck auszuüben, handelt es sich um juristischen Unsinn. (i) Artikel 50 EUV kennt einen derartigen Antrag nicht. Vielmehr sieht es vor, dass der Mitgliedstaat, der beschlossen hat auszutreten, dem Europäischen Rat diese Absicht mitteilt („notify“). Wie bei der Kündigung oder dem Austritt aus einem Verein handelt es sich um eine einseitige Willenserklärung, die aus sich heraus rechtsgestaltende Wirkungen erzeugt. Sie bedarf noch nicht einmal einer Begründung. Ein Antrag kann dagegen angenommen oder abgelehnt werden. Das ist ein erheblicher Unterschied. (ii) Auch kann unter keinem Aspekt die europarechtliche Verpflichtung eines Mitgliedstaates konstruiert werden, eine Mitteilung nach Artikel 50 Absatz 2 EUV vorzunehmen; ungeachtet der internen Vorgänge in diesem Staat und ihrer Bewertung nach nationalem Verfassungsrecht. (iii) Schließlich enthält der „European Union Referendum Act 2015“ keine Vorschrift, welche die britische Regierung an das Ergebnis der Abstimmung bindet. Höherrangiges Recht existiert im Vereinigten Königsreich insoweit ebenfalls nicht, so dass es bei der Souveränität des englischen Parlaments bleibt, eine eigene Entscheidung zu treffen. Problematisch kann allenfalls sein, ob das Parlament von Schottland oder die Volksvertretung in Nordirland Entscheidungsbefugnisse in dieser Frage haben.

Ein „weiter so wie bisher“ oder „noch mehr von demselben“ sind keine überzeugenden Strategien. Vor allem muss sofort der weit verbreitete Mechanismus beendet werden, dass Politiker der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Ministerrat Maßnahmen beschließen, für die dann die „bösen“ Bürokraten in Brüssel verantwortlich gemacht werden, wenn sie ausgeführt werden; meist noch unterstützt durch ein Medienecho, in dem mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene Beispiele für eine verfehlte
„Regulierungswut“ der EU immer wieder genüsslich ausgebreitet werden.

Die Bürokraten in „Brüssel“ werden zu gerne für alles Negative verantwortlich gemacht, und es wird mit der Lupe nach Fehlern und Defiziten gesucht, während die großen Leistungen der Europäischen Union kaum der Rede wert sind. Konstruktive Vorschläge für notwendige Verbesserungen sind rar. Auf der anderen Seite ist bei aller Anerkennung der Leistungen von Einrichtungen und Organen der Europäischen Union eine gewisse Abgehobenheit und Selbstgefälligkeit ihrer Amtsträger gegenüber abweichenden Meinungen und Sachkritik nicht zu verkennen. Auch insoweit gibt es Raum für Selbstkritik und Verbesserungen.

Eine Rückentwicklung der Europäischen Union zu einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft dürfte keine Lösung sein. Weder die Union noch ihre Mitgliedstaaten haben langfristig und in globaler Perspektive eine Chance, unter Aufrechterhaltung der gewohnten Standards zu überleben. Es ist jetzt angezeigt, offen und – notfalls kontrovers – zu diskutieren, wie ein künftiger Bundesstaat auf europäischer Ebene aussehen könnte. In jedem Fall sollte er über eine starke und handlungsfähige Spitze verfügen, aber bei möglichst weit gehender Autonomie der Länder und Regionen. Die Verteilung von Aufgaben und Kompetenzen ist in beiden Richtungen detailliert und kritisch zu überprüfen. Das im Primärrecht verankerte Subsidiaritätsprinzip ist ernst zu nehmen. Vor allem müssen aber die Einrichtungen und Organe der EU über unmittelbare demokratische Legitimation verfügen unter Einschluss von Elementen direktdemokratischer Mitbestimmung des Volkes in Sachfragen.

Die oft nicht transparenten Finanztransfers und Umverteilungen haben zum wiedererstarkenden Nationalismus auf den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums beigetragen. Ihm kann durch eine kluge und prinzipienorientierte Ordnung der „föderalen“ Finanzbeziehungen („Finanzausgleicht“) in einer reformierten Europäischen Union wirksam entgegen getreten werden. Das ist aber nur möglich, wenn die Fehler des innerdeutschen primären und sekundären Finanzausgleichs mit seinen verfehlten Anreizen und andauernden verfassungsrechtlichen Streitigkeiten vermieden werden. Nicht zuletzt würde eine Rückführung der Tätigkeit der Europäischen Zentralbank, die über nur sehr geringe demokratische Legitimation verfügt, auf eine eng verstandene Geldpolitik integrationsfeindlichen Bestrebungen ein wesentlicher Teil ihrer Wirksamkeit entzogen werden. Die Rettung von Staaten und Bankensystemen in Zahlungsschwierigkeiten und Fragen der regionalen, personalen und intertemporalen Verteilungspolitik sind von den gewählten Vertretern des Volkes zu entscheiden und nicht von Exekutiveinrichtungen ohne eigene demokratische Legitimation.

Vor allem ist aber eine besonders strikte Beachtung der beschlossen Regeln unabdingbar. Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht jüngst davon abgesehen hat, eine Regelverletzung zu konstatieren. Die Entscheidungsgründe zeigen deutlich Grenzen auf, auch wenn das Ergebnis zunächst wie ein Freibrief erscheinen mag. Die Zulassung einer umfangreichen illegalen Einwanderung und das Verschweigen demografischer Entwicklungen im In- und Ausland ist Wasser auf die Mühlen aller Alt- und Neunationalisten. Soweit erkennbar, sind die Angriffe auf das Geldwesen und eine übermäßige und unkontrollierte Einwanderung die entscheidenden Themen, die den Ausschlag geben. Hier ist besonders dringender Handlungsbedarf.

Im Hinblick auf die wirklichen Gefahren für Europa ist daran zu erinnern, dass die Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit zu den unverzichtbaren Kernaufgaben jedes Staatswesens gehört. Dazu ist in jedem Fall eine effektive Sicherung seiner Außengrenzen zu rechnen. Die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) wurde als einer der ersten Schritten der europäischen Integration beschlossen, scheiterte aber letztlich an der französischen Nationalversammlung; noch vor Abschluss der Verträge von Rom. Sie hat im Hinblick auf die Sicherheitslage neue Relevanz erlangt."

Börsen-Zeitung: "Wie ein europäischer Bundesstaat aussehen könnte"