Gastbeitrag von Volker Wieland: "Brexit-Votum ist ein Auftrag an die EU" ("ntv.de")

In einem Gastbeitrag appelliert Volker Wieland an alle Beteiligten, nach dem Votum der Briten für einen Austritt aus der EU nach neuen Wegen zu suchen und die EU wieder attraktiver zu machen.

Auf den Brexit folgt der Exit: Nach dem Nein der Briten beim EU-Referendum haben sich die Three Lions aus der Europameisterschaft verabschiedet. Doch genau wie sich die Engländer mit einem neuen Trainer bei der nächsten Qualifikation wieder in die Runde der Teilnehmer zurückkämpfen können, sollten sie auch in der EU den Blick nach vorne richten.

Ökonomisch wäre der Austritt Großbritanniens aus der EU für beide Seiten verkraftbar, auch wenn er aufgrund der engen wirtschaftlichen Verbindungen - 2015 lag der EU-Anteil der britischen Exporte bei 44 Prozent und bei den Importen bei 51 Prozent - das Wirtschaftswachstum reduzieren wird. Der Aufruhr an den Finanzmärkten kommt angesichts der wichtigen Rolle Londons im Finanzsystem kaum überraschend. Aber die Notenbanken können das Bankensystem mit ausreichend Liquidität versorgen, um eine systemische Krise zu vermeiden. Doch eine Europäische Union ohne Großbritannien wäre keine wirklich europäische - Europa umspannende - Union mehr.

Aus der Volksbefragung folgt nicht automatisch der Austritt. Das Abstimmungsergebnis zeigt die tiefe Spaltung, die durch das Land geht: 17 Millionen Menschen haben sich für den Brexit ausgesprochen, 16 Millionen dagegen. Die Online-Petition für ein zweites EU-Referendum gewinnt stündlich neue Anhänger. Allein dies sollte den Verantwortlichen in der EU und in Brüssel vor Augen führen, dass es sich lohnt, nach neuen Wegen zu suchen, die EU zusammenzuhalten, statt nun die Briten zur schnellen Umsetzung des Austritts zu drängen.

Der Wahlausgang in Spanien spricht ebenfalls dafür. Die Linken um Podemos konnten selbst im Zusammenschluss mit kleineren Parteien keine Mehrheit hinter sich versammeln; die PP unter Rajoy ging dagegen als stärkste Kraft aus den Wahlen - auch wenn dies kein "Weiter so" für die Politik der Konservativen ist.

Dass die Bürger in der EU mehr Kontrolle und Souveränität anstreben, haben die Briten mit ihrem Votum demonstriert. Es sollte Anlass sein, den Wunsch nach mehr Selbstbestimmung auf Ebene der Mitgliedstaaten ernst zu nehmen. Die europäischen Institutionen müssen so aufgestellt sein, dass sie die richtige Balance zwischen Selbstbestimmung und Souveränitätstransfer ermöglichen und aushalten. Dies gilt ganz besonders für die Eurozone. Hinter allen Reformmaßnahmen sollte der Leitgedanke stehen, dass Haftung und Kontrolle Hand in Hand gehen.

Zwar ist schon viel erreicht, aber ein paar Lücken müssen noch geschlossen werden, um die Währungsunion stabil zu machen. Beispielsweise sollte die enge Verbindung zwischen Banken und Staaten gekappt werden, indem die Privilegierung von Staatsanleihen in der Bankenregulierung aufgehoben wird. So können marode Banken nicht länger die Staaten, deren Anleihen sie halten, mit in die Tiefe ziehen. Außerdem muss die Nicht-Beistandsklausel wieder gestärkt werden: Ein Mitgliedstaat sollte nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates haften. Regierungen, die sich am Markt finanzieren müssen, achten mehr darauf, dass ihre Finanzpolitik nachhaltig ist. Und die EU Kommission sollte ihrer Aufgabe nachkommen, diese Nachhaltigkeit einzufordern, statt auf neue Vorschläge für noch mehr Umverteilung und Transfers zu setzen.

Nicht die Unsicherheit ist das größte Problem, wie der französische Präsident Francois Hollande zu glauben scheint, sondern die Zweifel daran, ob es noch attraktiv ist, Mitglied in der Union zu sein - und die gibt es nicht nur in Großbritannien. Am besten begegnet man den Zweiflern mit Ruhe, Selbstsicherheit und der Bereitschaft zum offenen Austausch. Selbst im Fall Großbritannien ist nicht ausgeschlossen, dass ein Umdenken einsetzt und der Brexit ausfällt. Das wäre das stärkste Argument für Europa."

ntv.de: "Brexit-Votum ist ein Auftrag an die EU"