Am 30. März dieses Jahres hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) in seiner Frühjahrspressekonferenz davor gewarnt, dass ein Embargo auf Gasimporte aus Russland oder ein Gaslieferstopp von russischer Seite zu zweistelligen Inflationsraten und einer Rezession in Deutschland führen könnten. Der Rat bezifferte die Wirkung eines Lieferstopps mit einem groben Abschlag von drei bis fünf Prozent des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf seine veröffentlichte Prognose. Die Bundesregierung solle deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, um die Abhängigkeit von Russland zu beenden, und unter anderem auch die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängern.
Was seither passiert ist
Ein Gasembargo wurde vermieden. So konnten die Gasspeicher leichter für den Winter befüllt werden. Inzwischen hat Putin jedoch selbst die Lieferungen gestoppt, was niemanden groß überraschen sollte. Die Verbraucherpreisinflation war im Monat September erstmals zweistellig und die deutsche Wirtschaft fällt wohl in eine Rezession oder befindet sich bereits darin. Aktuell verfügbare Prognosen gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im Jahr 2023 schrumpft und damit wieder unter das Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019 fällt. Zuletzt hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) zu Wort gemeldet. Er erwartet, dass das BIP im Jahresdurchschnitt 2023 um 0,3 Prozent zurückgeht. Im Frühjahr hatte er noch ein Wachstum von 2,7 Prozent für 2023 prognostiziert. Die Gemeinschaftsdiagnose für die Bundesregierung hat die Prognose ebenfalls um gut drei Prozent des BIP zurückgenommen. Institute wie das Ifo-Institut, das Kieler Weltwirtschaftsinstitut, die Dekabank oder die Deutsche Bank revidierten ihre Prognosen relativ zum Frühjahr sogar um drei bis fünf Prozent des BIP nach unten.
Die deutsche Industrie ist davon sehr stark betroffen. Sie hatte sich seit 2021 noch nicht einmal so weit erholt, dass sie das Niveau von 2018 erreichte. Insbesondere die Automobilbranche hatte 2020 und 2021 stark verloren. Mit der Gaskrise haben nun die Chemieindustrie, Metall- oder Papierherstellung und andere energieintensive Industrien den Rückwärtsgang eingelegt, denn der Gaspreis am Spotmarkt ist seit März extrem stark gestiegen. Er beträgt ein Vielfaches des Preises vor dem russischen Angriff. Anders geht es gar nicht, denn mit den russischen Importen fällt etwa die Hälfte der deutschen Gasimporte weg.
Kurzfristigen Ersatz gibt es praktisch nicht. Deutschland importiert zwar immer noch große Mengen an Gas per Pipeline aus den Niederlanden und Norwegen. Diese Länder können jedoch die Lieferungen nicht in dem Maße erhöhen, dass sie die entfallenen russischen Lieferungen substanziell ersetzen. Und was, wenn eine der Nordsee-Pipelines aus Norwegen von einem Anschlag betroffen wäre, wie kürzlich Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee?
Daneben importiert die EU Flüssiggas (LNG) per Schiff in ähnlichem Umfang aus Norwegen. Die starken Preisanstiege auf dem Spotmarkt rühren daher, dass die weltweite Produktion von Flüssiggas ebenfalls nicht so schnell ausgeweitet werden kann. Das in verschiedenen Ländern hergestellte Flüssiggas wird großteils im Rahmen von langfristigen Verträgen in asiatische Länder wie Südkorea oder Japan exportiert. Nun tritt aber Europa in einen Bieterwettbewerb um die knappen Flüssiggasmengen ein. Deshalb steigen die Gaspreise in Asien ähnlich stark wie in Europa. In Nordamerika hingegen haben sich die Gaspreise seit dem Ukrainekrieg praktisch kaum verändert. Dort ist Pipeline-Gas weiterhin in großem Umfang verfügbar, die Kapazitäten zur Verflüssigung sind jedoch begrenzt. Selbst wenn die Kapazitäten zur Verflüssigung und zum Transport erhöht werden, werden Preisunterschiede fortbestehen, um die damit verbundenen Kosten zu decken.
Gas importieren und sparen
Die Bundesregierung hat verschiedene Maßnahmen getroffen, um die Versorgung mit Gas zu verbessern. Bisher verfügt Deutschland über keine LNG-Terminals, wo das Flüssiggas regasifiziert und in Pipelines eingespeist werden kann. Nun sollen zwei mobile Terminals helfen. Weitere sollen gebaut werden. Außerdem haben sich Wirtschaftsminister und Bundeskanzler auf Reisen zu Gasexporteuren rund um die Welt gemacht – von Katar bis Kanada. Aus den genannten Gründen waren diese Reisen nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Erst müssen neue Kapazitäten zur Verflüssigung geschaffen werden. Geostrategisch wäre zudem eine Versorgung aus dem Persischen Golf heraus alles andere als besonders sicher. In Nordamerika müsste die Produktion von Fracking-Gas erst ausgeweitet werden, um die zusätzliche Nachfrage aus Europa zu befriedigen.
Die hohen Gaspreise wirken
Somit bleibt der Bundesregierung nicht viel mehr übrig, als dafür zu sorgen, dass der Gasverbrauch reduziert wird. Zuallererst sollte Gas weitgehend aus der Stromproduktion genommen werden – 2021 noch zwölf Prozent des Verbrauchs. Deshalb wird die besonders klimaschädliche Braunkohleverstromung hochgefahren. Außerdem sollen die deutschen Haushalte und Unternehmen ihren Gasverbrauch reduzieren. Haushalte und Fernwärme verbrauchten 2021 gut 38 Prozent des Erdgases, die Industrie 37 Prozent, Handel, Gewerbe und Dienstleistungen noch einmal 13 Prozent.
Natürlich setzen vor allem die hohen Preise einen Anreiz, Gas zu sparen. Das gilt insbesondere für die Unternehmen und Verbraucher, die nicht mehr von langfristigen Verträgen zu niedrigeren Preisen aus der Zeit vor dem russischen Angriff profitieren. Diese Wirkung will die Bundesregierung wie bereits andere Regierungen in der EU jedoch begrenzen, entweder durch direkte Preiskontrollen oder groß angelegte Transfers wie die sogenannte Gaspreisbremse. Ersteres würde direkt den Gasverbrauch erhöhen. Zweiteres lenkt zwar nicht direkt vom Gassparen ab, erhöht aber den allgemeinen Inflationsdruck.
Bisher ist der Gasverbrauch um 20 Prozent relativ zum langjährigen Durchschnitt gefallen, insbesondere in der Industrie. Aber 85 Prozent des Haushaltsverbrauchs fallen von Oktober bis März an. Die nun gut gefüllten Gasspeicher reichen nicht durch den Winter. Selbst bei einer Reduktion um 20 Prozent dürften die Gasspeicher bei normaler Witterung bis April leer sein. Und wie sollen sie für nächsten Winter gefüllt werden?
Was zu tun ist
Um die Inflation muss sich die Europäische Zentralbank kümmern. Sie muss die Notenbankzinsen dezidiert weiter erhöhen, um zumindest mittelfristig deutlich positive Realzinsen zu erreichen. Die Bundesregierung sollte hingegen alles tun, um das Energieangebot schnell auszubauen. Die Kohleverstromung ist notwendig – noch für einige Zeit –, aber andere Mittel sind besser, wenn es darum geht, das Klima zu schützen.
So gut wie jeder ist dafür, den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netzinfrastruktur stark zu beschleunigen. Aber immer noch ambitioniertere Ziele auszurufen hilft nicht. Realistisch ist und bleibt ein längerer Übergang von mehreren Dekaden, um den Umfang, Importkapazitäten und Netzinfrastruktur auszubauen und das Speicherproblem der Sonnenund Windenergie überzeugend zu lösen. Für diesen Übergang war in Deutschland bisher Erdgas als Brücke vorgesehen. Viele andere Staaten setzen dafür auf Kernenergie, die klimafreundlicher ist.
Eine pragmatische Lösung für den Übergang ist dringendst erforderlich, aber die Bundesregierung scheint sich zu verweigern. Zum einen sollten, wie etwa in Belgien und anderswo geschehen, die verfügbaren Kernkraftwerke – das wären bis zu sechs – noch mindestens weitere zehn Jahre eingesetzt werden. Das würde zudem helfen, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, die in der deutschen Stromproduktion deutlich höher sind als bei den meisten unserer europäischen Nachbarn.
Die Alternative wird politisch totgeschwiegen
Ein gut gehütetes Geheimnis bleibt, dass Deutschland selbst über umfangreiche eigene Schiefergas- und Schieferölquellen verfügt, die Förderung durch moderne Fracking-Methoden jedoch verbietet. Bereits im Jahr 2016 hat die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe einen umfangreichen Bericht vorgelegt. Fracking von Schiefergas würde Deutschland die Möglichkeit bieten, die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren. Förderbares Gas in dichten Tongesteinen (tiefer als 1000 Meter) ist geschätzt im Umfang von 320 bis 2030 Milliarden Kubikmetern – durchschnittlich 800 Milliarden Kubikmeter – verfügbar. Letzteres wären 16-mal die jährlichen russischen Importe.
Außerdem wurde eine „Expertenkommission Fracking“ für den Deutschen Bundestag eingerichtet. In ihren Berichten kam sie zu dem Schluss, dass sich die Umweltrisiken von Fracking in Bezug auf Grundwasser, seismische Aktivität und Emissionen durch eine angepasste Steuerung und Überwachung der Maßnahmen minimieren lassen. Die Experten haben also schon lange einen Weg zu einer besser abgesicherten und weniger klimaschädlichen Gasversorgung für die Jahrzehnte des Übergangs aufgezeigt, der aber seither politisch totgeschwiegen wird.
Zu rechnen bleibt deshalb mit einer anhaltend erhöhten Kerninflation, weil sich die Regierung lieber auf die Ausweitung von Transferzahlungen konzentriert, mit mehr Treibhausgasemissionen aus Deutschland durch die Kohleverstromung, mit einer bestenfalls geringen Verbesserung des Energieangebots über die kommenden Jahre und deshalb einer zunehmenden Abwanderung energieintensiver Industrieproduktion – unter anderem nach Nordamerika.
Rotary-Magazin: "Industriestandort Deutschland in Gefahr"