2016
29.06.2016
IMFS Distinguished Lecture
Prof. Peter Huber, Bundesverfassungsgericht
“Die Finanzkrise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts”
Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den OMT-Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigt nach Einschätzung von Verfassungsrichter Prof. Peter Huber, wie die Karlsruher und die Luxemburger Richter einen Ausgleich der Positionen herbeiführen, ohne Konflikte eskalieren zu lassen. „Wir haben im Vorlagebeschluss eine Brücke gebaut, die hat Luxemburg zu 80 Prozent übernommen“, sagte der Verfassungsrichter bei einem Vortrag zur Finanzkrise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und dem Spannungsfeld zwischen nationalem Verfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof. Mehr habe man nicht erwarten können.
Eine Woche zuvor hatten die Karlsruher Richter das OMT-Programm der EZB grundsätzlich gebilligt, für die Teilnahme der Bundesbank aber eine Reihe von Auflagen formuliert, die Bundestag und Bundesregierung beachten müssen. Im Juni 2015 hatte der EuGH in einer Vorabentscheidung geurteilt, dass die EZB in dem umstrittenen Programm Staatsanleihen kaufen dürfe und der Notenbank damit einen weitgehenden Freibrief erteilt. Mit der Einbeziehung der Luxemburger Richter per Vorabentscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht Neuland betreten. Man müsse miteinander über manche Fragen ins Gespräch kommen, erläuterte Huber die Vorgehensweise. Dabei sei noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Der Stellenwert der Rechtsprechung und der Gerichte selbst würden sich in den europäischen Mitgliedstaaten erheblich voneinander unterscheiden, sagte Huber. Während in Deutschland ein geradezu „atavistischer Glaube an das Recht“ herrsche, sei das Verfassungsgericht in Frankreich eher ein Mittel zum Zweck. Derselbe Gesetzestext werde daher in den einzelnen Ländern unterschiedlich verstanden. „Das muss man wissen, um zu begreifen, warum unsere Rechtsprechung im Ausland so viel Erstaunen auslöst“, sagte Huber. Seit der Aufklärung habe sich der Rechtsstaat in Deutschland durchgesetzt und schon früh geholfen, Unrecht zu beseitigen.
Anhand der sieben Entscheidungen zu Finanzfragen, die Huber seit 2011 als Berichterstatter begleitet hat, zeigte er, wie das Rechtssystem auf den Bundestag als Mitte der Demokratie ausgerichtet ist. So hat das Bundesverfassungsgericht 2011 im Urteil zur Griechenlandhilfe den Bundestag verpflichtet, den Vollzug zu kontrollieren oder ihm Kontrollrechte beim Rettungsfonds ESM erteilt. Diesen Entscheidungen zugrunde liegen laut Huber zwei wichtige Prinzipien: die Identitätskontrolle greife, wenn der sogenannte Ewigkeitsgrundsatz berührt werde, sich also einer Verfassungsänderung entziehen, und das europäische Recht an seine Grenzen stoße. Der zweite Kontrollvorbehalt, die Ultra-vires-Kontrolle, komme zum Tragen, wenn die Grenze des Rechtsprechungsauftrags überschritten würde, sagte Huber. „Eine willkürliche Anwendung des Rechts ist letzten Endes eine falsche Anwendung“. Mit diesem Vorbehalt habe das Bundesverfassungsgericht Nachahmer etwa in Belgien, Spanien und Polen gefunden. Der EuGH vermeide ernsthafte Konflikte mit den nationalen Verfassungsgerichten und löse die Fälle auf eine andere Weise. Dabei sei er „viel sensibler, als es das bloße ‚Wording‘ seiner Entscheidung nahelegt“, schloss Huber.