2019
04.12.2019
IMFS Policy Lecture
Volker Wieland, IMFS und Sachverständigenrat
“Den Strukturwandel meistern”
Die deutsche Wirtschaft bekommt die konjunkturelle Abkühlung weltweit zu spüren: Die weiter schwelenden Handelsstreitigkeiten und das Hin und Her beim Brexit sorgen für Unsicherheit, sinkende Nachfrage aus China nach Investitionsgütern aus Deutschland macht sich bemerkbar. Die Industrie befindet sich bereits in einer Rezession. Dazu kommen Herausforderungen wie die digitale Transformation und der demographische Wandel. Wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die derzeitige Situation einschätzt, erläuterte Prof. Volker Wieland bei der Vorstellung des aktuellen Jahresgutachtens mit dem Titel „Den Strukturwandel meistern“.
Wegen der Exponiertheit im Export seien stärkere Schwankungen im Wirtschaftswachstum dabei nicht ungewöhnlich, sagte Wieland. „Im Unterschied zum Beginn der Finanzkrise 2007/08 ist der Dienstleistungssektor weiter stabil, der Bau boomt.“ Ein Konjunkturpaket hält er daher momentan für nicht angemessen. Entscheidend sei stattdessen, die strukturellen Herausforderungen anzugehen: Die Arbeitsproduktivität sinke in Deutschland wie in allen fortgeschrittenen Industrienationen seit Jahren, die Zahl der neu gegründeten Unternehmen gehe weiter zurück. Der Sachverständigenrat hält es daher für angebracht, eher auf Innovationspolitik als auf Industriepolitik zu setzen und Frauen und ältere Menschen stärker am Arbeitsmarkt zu beteiligen und so ungenutzte Potenziale zu heben. In manchen Bereichen sei eine internationale Koordination unverzichtbar. Hier nennt Wieland den Klimaschutz sowie Forschung und Entwicklung.
Auf Seiten der Geldpolitik sieht Wieland derzeit keinen Handlungsbedarf. Sie sei im Euroraum immer noch sehr expansiv. Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) im September für neue Anleihekäufe sei nicht notwendig gewesen. „Das war das Abschiedsgeschenk von Präsident Draghi an die Märkte“. Die neue EZB-Präsidentin Lagarde sieht Wieland erst einmal „auf Autopilot“. Für die angekündigte Revision der Strategie hat er jedoch wichtige Ansatzpunkte: Für die Beurteilung der Preisstabilität schaue die EZB auf die Entwicklung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI. Andere Maße wie der BIP-Deflator, der auch die Investitionsgüter beinhaltet, würden in der Kommunikation der EZB allerdings nicht berücksichtigt. Nach diesem Preismaß sei die Inflationsentwicklung im Einklang mit den Erwartungen. Alternativ verweist Wieland auf den Deflator der privaten Konsumausgaben, der die Inflationsentwicklung der tatsächlich konsumierten Güter misst und den die amerikanischen Notenbank Federal Reserve heranzieht. „Aus Sicht der Fed wäre die Inflationsentwicklung ein Erfolg gewesen“, sagte Wieland.
21.10.2019
IMFS Working Lunch
Matthew D. Shapiro, University of Michigan
“Big Data - Implications for Central Banking”
Da Big Data und Digitalisierung viele Sektoren und Branchen beeinflussen, erleben auch die Zentralbanken einen Paradigmenwechsel, bei dem sie Umfragen und Big Data kombinieren. In seinem Vortrag im Rahmen der IMFS Working Lunch-Reihe teilte Matthew D. Shapiro, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Michigan und Direktor des Survey Research Center am Institute for Social Research, seine Erkenntnisse darüber, wie Zentralbanken aus Big Data Rückschlüsse auf die Struktur der Wirtschaft und das Verhalten von Haushalten und Unternehmen für politische Maßnahmen ziehen können.
Big Data ist in der Tat kein neues Thema für Zentralbanken", erklärte Shapiro und verwies auf das Beige Book der Fed, das sehr qualitative Daten über die regionalen Geschäftsbedingungen enthält. Seiner Ansicht nach wurden die größten Fortschritte bei der Nutzung von Big Data für die makroökonomische Analyse mit hochfrequenten Messgrößen der realen Aktivität erzielt. Es gebe auch qualitativ hochwertige Indikatoren aus offiziellen Quellen zur realen Wirtschaftstätigkeit, wie z. B. Beschäftigungs-, Umsatz- und BIP-basierte Daten. Er wies jedoch auf mehrere Mängel hin: Die Erhebungen basieren auf kleinen und sich verschlechternden Stichproben, oft gibt es eine Diskrepanz zwischen Preis- und Umsatzdaten und die Umsätze sind mit hohen Kosten und Belastungen verbunden. Andererseits bieten Big Data eine Basiswahrheit für die Validierung neuerer Maßnahmen. Sie haben auch eine höhere Granularität, was bedeutet, dass eine höhere Frequenz und eine feinere Auflösung auf geografischer, Produkt- oder Branchenebene potenziell zu besser informierten Entscheidungen führen können. Außerdem könnten Echtzeit-Indikatoren durch die größere Nähe zu den Quelldaten eine bessere Qualität aufweisen, so Shapiro.
Dennoch ist die Nutzung von Big Data für die Zentralbanken mit praktischen Herausforderungen verbunden, da natürlich anfallende Daten in der Regel unbeständiger sind als amtliche Statistiken oder die Ökonomen mit vielen Variationsquellen konfrontieren könnten, die in den amtlichen Statistiken nicht vorhanden sind oder geglättet wurden.
Bisher haben sich die Bemühungen der Federal Reserve um die Nutzung von Big Data auf Ausgaben und Beschäftigung konzentriert. Laut Shapiro sei die Ausweitung der Datenquelle für die Preise wahrscheinlich noch wichtiger für die Durchführung der Geldpolitik. Er forderte die Regierung und ihre statistischen Ämter auf, ein Paradigma zu entwickeln, bei dem Haushalte und Unternehmen bereit sind, ihre Daten für statistische Zwecke zur Verfügung zu stellen, so wie sie auch bereit sind, Umfragen durchzuführen. Darüber hinaus könnte diese durch Big Data verbesserte Messung weitere Auswirkungen haben: „Ökonomen müssen offen sein für die Möglichkeit, dass sich dadurch die Beurteilung der Wirtschaftsleistung erheblich verändern könnte“, so Shapiro.
18.09.2019
IMFS Policy Lecture
Volker Wieland, IMFS und Sachverständigenrat
“Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik”
Mit ihrer bisherigen Klimapolitik wird die Bundesregierung die Klimaziele für das Jahr 2030 nicht erreichen. Zahlreiche Vorschläge für eine neue Strategie im Klimaschutz liegen derzeit auf dem Tisch. Entscheidend ist nach Einschätzung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein einheitlicher Preis für den CO2-Ausstoß. Auf Anfrage der Bundesregierung hat der Sachverständigenrat seine Vorschläge für nationale Klimaschutzmaßnahmen in einem Sondergutachten zusammengefasst, das Prof. Volker Wieland in einer IMFS Policy Lecture in Frankfurt vorstellte. „Die zentrale Stoßrichtung des Gutachtens ist die Kosteneffizienz“, erläuterte Wieland. Da Treibhausgase aus dem Wirtschaftsgeschehen entstünden, könne man CO2-Emissionen nicht einfach verbieten wie einst FCKW.
Statt einer Steuer auf den CO2-Ausstoß befürworten die Wirtschaftsexperten die Ausweitung des bestehenden EU-Emissionshandel (EU-ETS) auf die Bereiche Gebäude und Verkehr auszuweiten. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Emissionshandel sehen sie als Beleg, wie bei guter Wirtschaftsentwicklung Emissionen in einem funktionierenden System eingespart werden können. Ein planwirtschaftlicher Ansatz, wie bei einer CO2-Steuer, wirke oft nicht, wie man das erwarte, warnte Wieland. Das Ziel sei zudem ein anderes: „Es geht nicht darum, Einnahmen für den Staat zu generieren, sondern das Verhalten zu ändern“. Ein marktwirtschaftlicher Ansatz sei daher zu bevorzugen, wonach dort reduziert werde, wo es am effektivsten ist. Während bei einer CO2-Steuer der Preis für die Emissionen fest sein, werde im Emissionshandel die Menge festgelegt. „Umso höher der Preis für die CO2-Emissionen ist, umso größer wird der Anreiz, sie zu vermeiden“, sagte Wieland.
Um einen einheitlichen Preis für den CO2-Ausstoß in Europa zu erreichen, sollten nach Einschätzung des Sachverständigenrats spätestens 2030 alle relevanten Sektoren in einen umfassenden europäischen Emissionshandel integriert werden. Von einer Vorreiterrolle Deutschlands beim Klimaschutz rät Wieland jedoch ab: Dies könnte ein Trittbrettfahrerverhalten anderer befördern. Stattdessen setzt er in den internationalen Klimaverhandlungen auf ein gegenseitigen Geben und Nehmen. Denn im Klimaschutz sei klar: „Globale Koordination ist unverzichtbar“.
08.05.2019
IMFS Working Lunch
Ulrich Bindseil, European Central Bank (ECB)
“Central Banking Before 1800 – A Rehabilitation”
Normalerweise werden die 1668 gegründete schwedische Zentralbank und die 1694 gegründete Bank of England (BoE) als die ältesten europäischen Zentralbanken bezeichnet. In seinem Working Lunch blickte Ulrich Bindseil auf die Ursprünge des Zentralbankwesens zurück und argumentierte gegen die vorherrschende Ansicht. Bindseil, der Generaldirektor für Marktoperationen bei der Europäischen Zentralbank (EZB) ist, analysierte die Satzungen verschiedener früherer kontinentaleuropäischer Institutionen und untersuchte, ob diese Banken ein politisches Mandat hatten und auf einem Zentralbankkonzept basierten. Auch das Prinzip des Kreditgebers der letzten Instanz, ein wesentliches Merkmal für die Gründung einer Zentralbank, soll sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt haben.
Laut Bindseil erfüllten jedoch bereits vor 1800 mehr als 20 Institutionen die Definition von Zentralbanken. Er stellte fest, dass die ersten Institutionen, deren Geschäftsmodell in der Ausgabe von Zentralbankgeld mit besonders kurzfristigen Verbindlichkeiten bestand und die auf der Grundlage spezifischer politischer Ziele handelten, auf das Jahr 1401 zurückgingen, als die Taula de Canvi in Barcelona gegründet wurde, oder auf die Anfänge mehrerer Banken in Italien, wie die Casa di San Giorgio in Genua (1407), die Banco di Rialto in Venedig (1587) oder das Bankensystem von Neapel (1580). Auch die Hamburger Bank (1619) und die Nürnberger Bank (1621) zählen zu diesen frühen Institutionen. „Machiavelli bezeichnete die Casa di San Georgio als einen Staat im Staate“, erklärte Bindseil deren herausragende Stellung.
Seit den Anfängen des Zentralbankwesens ist die Kreditvergabe an den Staat ein immer wiederkehrendes Thema. Die Casa di San Giorgio und die BoE gehen beide auf die Notwendigkeit zurück, einen Rahmen für die Organisation der Gläubiger des Staates zu finden. Auf der Grundlage seiner Analyse der Bilanzstruktur der Zentralbanken vor 1800 stellte Bindseil fest, dass „die Bank of England von Anfang an einen großen Kredit an die Krone vergeben hatte“. Auch die Riksens Ständer Bank, die Vorläuferinstitution der schwedischen Reichsbank, finanzierte die schwedische Regierung während großer Teile des 18. Die ersten Zentralbanken wurden meist in Demokratien gegründet. Wie Bindseil weiter erläuterte, herrschte die Meinung vor, dass Zentralbanken nicht in einer Monarchie gegründet werden könnten, da die Bank of England eine konstitutionelle Monarchie war.
Im Vergleich zwischen der Vergangenheit und der aktuellen Situation betonte Bindseil, dass die Definition der zulässigen Sicherheiten bei der Kreditvergabe an private Kreditnehmer und das Konzept des Kreditgebers der letzten Instanz als Funktion im Zusammenhang mit der Finanzstabilität im Laufe der Zeit konstante Themen waren. Alles in allem geht die Geschichte des Zentralbankwesens nach Bindseils Meinung über die schwedische Zentralbank und die BoE hinaus. „Wenn man diese Konzepte anwendet, ist es schwer zu glauben, dass das Zentralbankwesen von der Riksens Ständer Bank erfunden wurde“, schloss er.
08.04.2019
IMFS Working Lunch
Michael Heise, Allianz
“Inflation Targeting and Financial Stability”
In den letzten Jahrzehnten sind die Renditen von Staatsanleihen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ebenso wie die langfristigen Zinssätze drastisch gesunken. In seinem Working Lunch untersuchte Michael Heise, Chefvolkswirt des Versicherungskonzerns Allianz, die jüngsten Entwicklungen in der Geldpolitik und schlug vor, einen breiteren Index für Preisstabilität zu erstellen.
Laut Heise gilt die allgemeine Faustregel, dass der langfristige Anleihezins mit dem langfristigen Wachstum des BIP korrelieren sollte, nicht mehr. „Die Geldpolitik und nicht die fundamentalen Faktoren haben die Zinsen gedrückt“, sagte Heise. Mit Blick auf die negativen Begleiterscheinungen eines Niedrigzinsumfelds warnte Heise vor einer Situation wie in Japan, das nach einer Finanzkrise eine Bilanzrezession erlitt. In Japan hinderte die Anhäufung notleidender Kredite (NPL) die Banken daran, neue Kredite zu vergeben, und Zombie-Unternehmen wurden am Leben erhalten.
Darüber hinaus sind infolge des derzeitigen Niedrigzinsumfelds im Euroraum die Preise für Vermögenswerte und insbesondere die Immobilienpreise gestiegen. Gleichzeitig stiegen die Risiken in den Portfolios der Anleger. Laut Heise stiegen die BBB-Komponenten in den Investment-Grade-Indizes kontinuierlich an. „Die Anleger steigen auf der Suche nach Rendite die Risikoleiter hinauf“, so Heise. Auch im Zielsystem bauen sich Ungleichgewichte auf.
Beim Vergleich der unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Inflationsentwicklung kam Heise zu dem Schluss, dass „die Inflation ein Eigenleben hat“. Seiner Meinung nach sollte die EZB die Preisstabilitätsziele anpassungsfähiger definieren und den Schwerpunkt von einem einfachen Jahresziel für die Verbraucherpreisinflation weg verlagern.
Anstatt sich ausschließlich auf den Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) zu stützen, schlug Heise vor, einen breiteren Index zu erstellen, der auch die Inflationserwartungen widerspiegelt. Da sich in einem Finanzboom Risiken aufbauen, die bei einer Verlangsamung der Wirtschaft zurückschlagen könnten, sollte die EZB nach Ansicht von Heise auch den Entwicklungen im Finanzzyklus mehr Gewicht beimessen. Das ist schwierig und erfordert harte Entscheidungen, aber sie müssen getroffen werden", so Heise.