Kann man der Europäischen Zentralbank Erfolglosigkeit vorwerfen? Den Geschäftsbanken fällt es schwer, ihre Geschäfte zu machen, wenn die Währungshüter die Leitzinsen auf niedrigem Rekordniveau halten. Sind Ihrer Meinung nach die von der EZB unternommenen Schritte wohl durchdacht?
Volker Wieland: Die Maßnahmen der EZB sind nicht wirkungslos. Im Gegenteil, mit Zinssenkungen und langfristigen Refinanzierungsgeschäften hat die EZB äußerst günstige Refinanzierungskonditionen für die Geschäftsbanken geschaffen und die wirtschaftliche Entwicklung gestützt. Der Realzins, das heißt der nominale Geldmarktzins abzüglich der erwarteten Inflationsrate, ist negativ. Unternehmen können somit ihre Projekte sehr günstig finanzieren. Natürlich hängt die Profitabilität von Investitionen nicht nur von den Finanzierungskosten, sondern auch von den zu erwartenden Erträgen ab. In dieser Hinsicht gibt es große Unterschiede innerhalb der Eurozone. Während die lockere Geldpolitik in Ländern wie Deutschland zur Gefahr einer Überhitzung beiträgt, wird die Entwicklung in den Krisenstaaten noch durch den schwachen Ertragsausblick und die Verlustrisiken auf den Bankbilanzen gebremst. Mit der Ankündigung im Sommer 2012, im Rahmen des OMT-Programms (Outright Monetary Transactions) gegebenenfalls massiv Staatsanleihen von Krisenländern aufzukaufen und Ausfallrisiken zu übernehmen, hat die EZB zu dem drastischen Rückgang der Risikoprämien in diesen Ländern beigetragen. Man kann nur hoffen, dass die Krisenländer diese Chance nutzen, um weiterhin konsequent ihren Haushalt zu konsolidieren und den Bankensektor zu restrukturieren.
Angesichts der folgenlosen, geldpolitischen Maßnahmen der EZB stellt sich die grundlegende makroökonomische Frage über die Dauer von Konjunkturzyklen. Wie nehmen Sie Stellung dazu?
Volker Wieland: Die Maßnahmen der EZB sind nicht folgenlos, sondern haben bereits große Wirkung entfaltet. Allerdings stützt die lockere Geldpolitik nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Sie führt keine dauerhaften Verbesserungen der Angebotsseite herbei. Um das langfristige Wachstumspotential zu steigern, müssen strukturelle Reformen vorgenommen werden. Während Länder wie Spanien, Portugal und Irland auf diesem Weg schon deutliche Fortschritte erzielt haben, ist der langfristige Ausblick in Italien noch sehr schwach. Der Arbeitsmarkt muss flexibilisiert werden und bei der Konsolidierung des Staatshaushalts sollte mehr auf Ausgabensenkungen denn auf Steuererhöhungen gesetzt werden.
Die Kerninflationsrate hat sich im Juni auf ein Niveau von 0,5 % eingependelt. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr einer Deflation in Euroland?
Volker Wieland: Die Inflationsrate ohne Energie und Nahrungsmittel lag im Juni bei 0,8%. Die Energiepreise hatten in den Vormonaten noch eine stark dämpfende Wirkung. Man kann also nicht sagen, die Kerninflation läge stabil bei einem Niveau von 0,5%. Ein Vergleich durchschnittlicher Inflationsraten in den Jahren 2014 und 2013 zeigt ebenfalls eine höhere Rate von 0,8%. Die verfügbaren Inflationsprognosen, ob von der EZB oder aus Umfragen unter professionellen Prognoseerstellern wie dem Survey of Professional Forecasters oder Consensus Forecasts weisen allesamt auf einen kommenden Anstieg der Inflationsraten hin. Die Gefahr eines breiten Preisrückgangs – einer Deflation – in der Eurozone insgesamt ist anhand dieser Prognosen und den damit verbundenen Konfidenzbändern sehr gering. Zum Teil sind Preisrückgänge oder unterdurchschnittliche Preisanstiege in einzelnen Sektoren und Krisenländern auch eine willkommene Entwicklung. Sie erhöhen die internationale Wettbewerbsfähigkeit und tragen zu größeren Wachstumschancen bei.
Bald wird der Stresstest durchgeführt. Haben die deutschen Banken Grund zur Sorge? Wie können sich die Ergebnisse auf den Geschäftsklimaindex auswirken?
Volker Wieland: Ich habe keinen direkten Einblick in Bankbilanzen und kann die Lage einzelner Banken nicht beurteilen. Die umfassende Bilanzprüfung durch die EZB birgt jedoch die Chance, dass die Unsicherheit über Verlustrisiken in den Bankbilanzen, insbesondere in den Krisenländern, reduziert wird. Zum einen erhöht sie die Transparenz, zum anderen sollte dadurch eine Restrukturierung oder Abwicklung von Banken, die praktisch insolvent sind, ausgelöst werden. Im letzteren Fall müssten fiskalische Mittel bereitgestellt werden, entweder von den Regierungen der betroffenen Länder oder im Rahmen von Programmen dieser Länder mit dem Rettungsfonds ESM. Die konjunkturelle Entwicklung könnte davon profitieren. Wenn Sie auf den Ifo-Geschäftsklimaindex in Deutschland schauen, so ist er eher von den Ertragschancen der deutschen Unternehmen getrieben. In Deutschland liegt keine Kreditknappheit vor.
In letzter Zeit ist viel die Rede von einer Bankenunion bzw. Bankenaufsicht. Sind Sie der Meinung, dass Länder außerhalb der Eurozone auf ihre Souveränität verzichten sollen? Was sind die Vor- und Nachteile für diese Staaten?
Volker Wieland: Zunächst einmal ist die Bankenunion ein Versuch, den Zusammenhang zwischen Staatsfinanzen und Bankfinanzen im Euroraum zu durchbrechen. Eine europäische Aufsicht, die weniger von regionalen oder nationalen Interessen beeinflusst werden kann, könnte dazu beitragen, dass zukünftig Bankenkrisen weniger häufig auftreten und geringeren gesamtwirtschaftlichen Schaden anrichten. Eine europäische Abwicklungs- und Restrukturierungsinstitution gehört unbedingt dazu. Eine offene Flanke besteht jedoch noch in der Nullgewichtung von Staatsanleihen bei der Eigenkapitalregulierung für Banken. Auch die Staaten außerhalb der Eurozone wären gut beraten, diese Flanke auf eine vorausschauende, graduelle Weise zu schließen.
Polen steht nach zehn Jahren EU-Mitgliedschaft vor der wesentlichen Frage, ob die Euro-Einführung vorteilhaft sein wird. Inwiefern lohnt es sich für die sechstgrößte Volkswirtschaft Europas dem Euroraum beizutreten?
Volker Wieland: Die Einführung der gemeinsamen Währung war von Anfang an ein politisches Projekt. Aus makroökonomischer Sicht bietet der Wechselkurs eine einfache Möglichkeit, Wettbewerbsverluste auszugleichen. Bei einer gemeinsamen Währung müssen sich Preise und Löhne stattdessen stärker an externe Entwicklungen anpassen. Ein Verlust an internationaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit muss dann durch Lohn- und Preissenkungen statt durch eine Abwertung ausgeglichen werden. Deshalb gab es auch von Anfang an Ökonomen, die empfohlen haben, die gemeinsame Währung erst später als Krönung des europäischen Integrationsprozesses einzuführen. Einige Länder haben jedoch immer wieder Abwertungen vorgenommen, die mit entsprechend höheren Inflationsraten einhergingen. In diesen Ländern hat die EZB zu einer höheren Preisstabilität beigetragen. Für einen Beitritt wichtig sind jedenfalls eine nachhaltige Fiskalpolitik, unabhängig von Zentralbankeinkünften, und Flexibilität in Arbeits- und Gütermärkten auch ohne Wechselkursanpassungen.
Wie sehen Ihre Prognosen für Deutschland aus? Was ist im folgenden Jahr zu erwarten?
Volker Wieland: Der Sachverständigenrat hat zuletzt am 20. März seine Konjunkturprognose für das laufende Jahr aktualisiert. Er geht für 2014 von einer Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland von 1,9 % aus. Die Anhebung um 0,3 Prozentpunkte im Vergleich zur Prognose im Jahresgutachten 2013/14 spiegelt die sich zu Jahresbeginn abzeichnende bessere Entwicklung sowie die Aufhellung der Stimmungsindikatoren wider. Unsere Prognose für das Jahr 2015 wird erst am 12. November veröffentlicht.
Das Gespräch führte Michał Hetmański.
Wirtschaftsnachrichten "Wi", Ausgabe August-September mit den Schwerpunktthema "Deutsch-polnische Wirtschaftsbeziehungen"
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